RHEINISCHE POST
Im Blickpunkt - 28. Oktober 2000


Der Regierungsbunker
Eines der aufregendsten Bauwerke Deutschlands verschwindet wieder von der Bildfläche, ehe es überhaupt richtig wahrgenommen werden konnte: der Regierungsbunker im Ahrtal. Ein technisch perfektes Produkt des Kalten Krieges, das im Ernstfall 3000 Menschen 30 Tage das Überleben gesichert hätte. Ein neuer Verwendungszweck war nicht zu finden, deshalb soll die Anlage restlos entkernt werden; selbst die Farbe wird von den Wänden gekratzt, um den nackten Beton der Natur zu überlassen.


Frösteln unter Weinbergen

Von Klaus Peter Kühn

Der Zweck, für den der hoch geheime Regierungsbunker im Ahrtal gebaut wurde, lässt schaudern, aber auch die monströse unterirdische Ersatzhauptstadt löst Beklemmung aus. Den wenigen Besuchern, die kürzlich noch einmal die Gelegenheit erhielten, in die Unterwelt einzutauchen, kam es fast so vor, als ob mit dem beschlossenen „Total-Rückbau“ auch ein böser Geist eingemauert werden soll. Denn in der „Dienststelle Marienthal“, so der Deckname für den „Ausweichsitz der Verfassungsorgane des Bundes“, ist der Kalte Krieg noch spürbar.

Hierhin wollten sich Parlament, Regierung, Verfassungsgericht, Staatsoberhaupt und Länderkammer eines Staates zurückziehen, der im Fall eines atomaren Schlagabtauschs zwischen Ost und West sicherlich zum Hauptkriegsschauplatz geworden wäre. Fast jeder Besucher erliegt der Faszination der im Berg installierten Technik, kaum jemand ist nicht entzückt von den „Zeit-Konserven“, die hier lagern: die nie veränderte Einrichtung stammt aus den 60er Jahren - sie ist nostalgisch und fabrikneu zugleich. Fast unbeschreiblich ist das Gefühl, wenn der kleine von einem Elektro-Traktor gezogene Personen-Zug nach dem Passieren unzähliger Schleusentore wieder ans Tageslicht rollt: Sonnenlicht statt Neonröhren, liebliche Weinberge statt Beton und Stahl - die Freude über die unversehrte, friedliche Welt am Ende des Tunnels ist spontan und stark. Und dies in dem Bewusstsein, dass ein Ernstfall - wie er von den Erbauern angenommen werden musste - heute fast außerhalb jeder Wahrscheinlichkeit liegt.

Welche weitaus dunkleren Gefühle müssen jene Menschen beschlichen haben, die (letztmalig 1987) in der Bunkeranlage der Verteidigungsfall geprobt haben. Alois Hoffmann, der letzte aktive Elektromeister der Dienststelle Marienthal, hat bis auf eine alle Übungen - mit bis zu 1000 Teilnehmern - miterlebt. Er erinnert sich, dass selbst bei zwei- oder dreiwöchigen Ernstfall-Proben allenfalls für drei bis vier Tage der Abschluss von der Außenwelt wirklich perfekt hergestellt wurde. Zu groß war die Belastung für die Menschen.
Die Anlage kühlt zwar allmählich aus, weil so viel Energie wie möglich eingespart werden soll, aber sie lässt niemanden kalt. Sie macht das Ausmaß der atomaren Bedrohung begreifbar und erzeugt eine tiefe Zufriedenheit über die historische Wende in Europa. Der nicht mehr benötigte „Ausweichsitz der Verfassungsorgane“ wäre also ein idealer Ort, um künftigen Generationen eine Vorstellung davon zu geben, welche Ängste die Menschen während des Kalten Krieges plagten. Aber ein Museum „Dienststelle Marienthal“ ist nie diskutiert worden.

Nachdem die Bundesregierung im Dezember 1997 beschlossen hatte, das Bunkersystem aufzugeben, begann 1998 die Suche nach einer „zukunftsträchtigen zivilen Anschluss-nutzung“. Thomas Ernst Hofmann von der Oberfinanzdirektion Koblenz hat schon ganze Militärflughäfen wie Bitburg an den Mann gebracht, aber am Regierungsbunker biss auch er sich die Zähne aus. Interessenten habe es zwar reichlich gegeben, berichtet er, die wenigen ernsthaften unter ihnen seien jedoch vor den immensen Investitionskosten zurückgeschreckt. Hennie van der Moest, der in Kalkar im ehemaligen Schnellen Brüter das Kernwasserwunderland betreibt, habe geprüft, ob sich in dem Bunker ein Hotel einrichten lasse. Die Bau- und Brandschutzvorschriften bei einer solchen Nutzung sind jedoch so streng, dass allein für deren Erfüllung 60 Millionen Mark und mehr hätten verbaut werden müssen.

60 Millionen Mark wird es nun den Bund mindestens kosten, seine Ersatzhauptstadt umweltverträglich stillzulegen. Vergangenen Sommer wurde entschieden, bis auf den nackten Beton alles aus dem Berg zu räumen. Das Stollensystem ist von lockerem, viel Wasser führenden Schiefergebirge umgeben. Die ständige Belüftung der Röhren hält das System bislang trocken, bei einer Stilllegung erwarten Experten täglich das Einsickern von rund 100 Kubikmeter Wasser, das Öle aus den Maschinen, bleihaltige Farben und andere Schadstoffe ins Grundwasser spülen würde.

Frühestens in einem Jahr, so Hofmann, werden die bislang beispiellosen Arbeiten beginnen. Das spartanische Mobiliar ist bereits zum großen Teil herausgeholt und als humanitäre Hilfe vor allem nach Jugoslawien gebracht worden. Der Abtransport des „Rests“ dürfte fünf bis sechs Jahre dauern. Zum einen sind die Arbeiten ungeheuer aufwändig, zum anderen muss alles so zerkleinert werden, dass es durch die zig-fach vorhandenen nur drei Meter breiten Schleusen passt. Der teilweise sechs Meter dicke Beton lässt keine Erweiterung zu.

Bis zum Start der Arbeiten muss die riesige Anlage auf einem bescheidenen Niveau in Stand gehalten werden. Belüftung und Beleuchtung laufen auf Sparflamme. 15 Mann Personal reichen für diesen Auslaufbetrieb aus. Früher waren es zehnmal so viel. Elektromeister Hoffmann hat 30 seiner Berufsjahre unter den Weinbergen verbracht. Diszipliniert, wie er es gewohnt ist (er durfte jahrzehntelang selbst seinen engsten Angehörigen keine Details über seinen Arbeitsplatz verraten) wird er weiter arbeiten: „Ein bisschen Wehmut ist dabei, das ist klar. Aber wir müssen unseren Auftrag erfüllen und er heißt: Anlage in Gang halten, bis die Abriss-Kolonnen eintreffen.“


Was und Wann
An der Gewölbeform der Stollen ist noch heute der Ursprung erkennbar: Vor dem Ersten Weltkrieg wurden die Ahrberge untertunnelt, um eine sogenannte strategische Bahnlinie von der Brücke von Remagen Richtung französischer Grenze zu führen. In den beiden kurz hintereinander liegenden zweispurig angelegten Tunneln bei Marienthal ist noch nie ein Zug gefahren. Die Franzosen sprengten die Röhren zum Teil, im Zweiten Weltkrieg wurden sie wieder geöffnet. Hitler ließ hier V1- und V2-Rakteten bauen. Im letzten Krieg erneut gesprengt, blieb von den Tunnelröhren genug intakt, um sie als Basis für den Regierungsbunker zu nutzen. 1960 begann der Ausbau, 1966 wurde die erste der fünf autarken Sektionen fertiggestellt, 1972 die letzte.

Ludwig Ehrhard und Helmut Schmidt waren im Bunker, allerdings nicht zu ihren Amts-zeiten als Bundeskanzler. An den Übungen nahmen neben echten Ministern und Staats-sekretären stets nur „Kanzler üb.“ - Kanzler übungshalber - teil.

Die Klima- und Kommunikationsanlagen wurden bis in die 90er Jahre hinein modernisiert. Das erste in Deutschland verlegte Glasfaserkabel führte in den Bunker mit eindruckvollen technischen Daten:
- 19 Kilometer Stollen
- 580 Kilometer Leitungen
- 83 000 Quadratmeter Nutzfläche im Untergrund
- 936 Schlafräume
- 897 Büros
- fünf Großküchen
- fünf Steuerzentralen
- fünf Sanitätszentren
- ein Gottesdienstraum
Obwohl jede zweite Neonröhre herausgeschraubt ist und nur noch zehn Stunden pro Monat die Lüftung läuft, beträgt die monatliche Stromrechnung derzeit noch immer 25 000 Mark. Beim Rückbau der Anlage muss von 480 000 Quadratmeter Wandfläche von Hand die Farbe abgekratzt werden.

Der „Ausweichsitz der Verfassungsorgane des Bundes im Krisen- und Verteidigungsfall zur Wahrnehmung von deren Funktionsfähigkeit“ trägt den Decknamen „Dienststelle Marienthal“, benannt nach dem idyllischen Örtchen 300 Meter weiter die Straße hinab Richtung Ahr. Das Personal raunte untereinander vom „Rosengarten“. Diesen Namen trug ein Archiv-Raum im Trakt, der dem Verteidigungsministerium zugewiesen war. - Der Sage nach überlistete Zwergenkönig Laurin, der unter der Erde lebende Herr des „kleinen Rosengartens“, seine Gegner.

Was bleibt, sind Photographien
Der Aachener Photograph Andreas Magdanz war ein halbes Jahr fast täglich im Regierungsbunker und durfte sich zum Schluss sogar allein bewegen, weil die Betreuer der Anlage sicher waren, dass er sich nicht mehr in dem Labyrinth verirren würde. Dennoch sagt Magdanz: „Ich kenne das Bauwerk noch immer nicht ganz. Vielleicht gibt es noch ein Geheimnis.“

Aus der anfänglichen Genehmigung für drei Tage in der „Dienststelle Marienthal“ wurden zunächst sechs Wochen und dann sechs Monate, in denen der Photograph mit größter Präzision das Innenleben des Bunkers mit einer Plattenkamera dokumentierte. Er verzichtete dabei auf zusätzliche Lichtquellen. Die rund 100 in der Gebäudemonographie „Dienststelle Marienthal“ in Fotoqualität gedruckten Aufnahmen vermitteln einen hoch authentischen Eindruck von der unwirklichen, unterirdischen Welt.

Farben sind sparsam nur dort verwendet, wo sie eine besondere Funktion haben - etwa bei dem orangefarbenen Einband, der eine riesige Vergrößerung des Atombomber-Symbols darstellt, das als Magnet-Sticker für die raumhohen Karten in den Lagezentren bestimmt war.

Von dem großformatigen Bildband sind in zweimonatiger Arbeit gerade einmal 1500 Exemplare gedruckt worden, eigentlich zu wenig, um diese einzigartige Bauwerk vor dem Vergessen zu bewahren.