FRANKFURTER RUNDSCHAU
Feuilleton - 22. Dezember 2000


Eine autarke Festung ohne Perspektive
Der Atombunker „Dienststelle Marienthal“: Das Monstrum lebt noch

Von Ulf Erdmann Ziegler

Seit zwei Jahren gibt es Zeitungsartikel und Gerüchte, Gerüchte und Fernsehberichte, aber die Nachricht hat es schwer, Gehör zu finden. Sie besagt, in Kurzfassung, dass die Bundesrepublik Deutschland es sich geleistet hat, südlich von Bonn einen unterirdischen Bunker zu bauen, der eine Art Höhlenstadt darstellt und während der Schlacht um Armageddon die Spitzen des Staates und des Militärs aufnehmen sollte, ein gigantisches Refugium für bis zu dreitausend Leute für die Dauer von dreißig Tagen Atomkrieg in einem restlos autarken technischen Konstrukt. Aber das ist nur der erste Teil der Nachricht. Der zweite lautet, dass der megalomane Bau, vor dreißig Jahren fertiggestellt, mit einem Arsenal von hundertundachtzig auf Verschwiegenheit vereidigten Beamten einsatzbereit gehalten wurde, und Teil drei der Nachricht ist, dass unsere nach Berlin umgezogene Staatsspitze das Ganze nun nicht mehr zu brauchen meint und faktisch aufgegeben hat. Das militärisch perfekte Monstrum für sogenannte zivile Zwecke ist nicht mehr geheim. Wer den Eingang sucht, findet ihn einige hundert Meter über Marienthal bei Ahrweiler.

Es gibt Grund genug, von dieser Angelegenheit nichts wissen zu wollen, und das Prinzip des Knöpfchens delete heißt bekanntlich Verdrängung. Vielleicht wäre die Dienststelle Marienthal der Verdrängung anheim gefallen, hätte sich nicht ein Fotograf namens Andreas Magdanz ihrer mit Verstand und Einfühlung - sofern das Objekt irgendein Gefühl erlaubt - angenommen. Als Produkt einer zweijährigen Arbeit liegt nun ein großformatiges, graues, mit äußerster Sorgfalt gedrucktes Buch vor, dessen orange-farbener Schutzumschlag irritierender Weise den schwarzen Schattenriss einer B-52 zeigt.

Das Flugzeug steht für die aktive Seite eines möglichen atomaren Krieges, und die niedliche grafische Wiedergabe fand der Fotograf Magdanz im „militärischen Lagezentrum“ des Bunkers, wo mit tausenden von magnetischen Täfelchen das Planspiel für den sogenannten Ernstfall bereitstand. Der Bomber kam auf den Umschlag, weil Andreas Magdanz nach seiner intensiven Bestandsaufnahme zu dem Schluss gekommen war, dass es ein exemplarisches Bild, das die High-tech-Höhle pars pro toto darstellen könnte, nicht gibt.
Dennoch stellt das Buch einen respektablen Versuch dar, ein Bauwerk in Bilder umzusetzen, das mit Ausnahme zweier fieser Eingangsbauten kein Gesicht hat, sondern zwangsläufig aus einer nahezu unendlichen Folge von Interieurs besteht - die sich im Zweifelsfall gleichen. Da gibt es schwere Geräte und Neonröhren, gewaltige Ventilatoren und tonnenschwere Schleusen, begehbare Lufttunnel und Gänge, die so lang sind, dass man ihr Ende nicht einmal mit dem präzisen Auge einer Architekturkamera ausmachen kann. Die schwerindustrielle Seite ist ergänzt durch Aufnahmen von gnadenlos funktional eingerichteten Dienstzimmern. Der Modus Schwarzweiß wird in wenigen Fällen geopfert für bizarre Perlen der Dienststelle, zum Beispiel einen cremigen Friseursalon mit lila Dekor, der in die Welt von Raumschiff Enterprise genauso gut Eingang finden könnte wie in die der Barbiepuppen.

Für den fotografischen Dokumentaristen, der an der Technischen Hochschule in Aachen gelernt und auch gelehrt hat, war die „Dienststelle Marienthal“ ein Glücksfall: Ein Vakuum der sozialen, politischen und ästhetischen Geschichte, in das gründlich hineinzuschauen er plötzlich das Privileg hatte. Einmal in den Sog des Unerklärlichen geraten, trat Andreas Magdanz die Flucht nach vorn an, ließ sein Buch auf eigenen Kosten drucken, organisiert selbst den Vertrieb, machte zusätzlich einen Videofilm und richtete eine Website ein (www.dienststellemarienthal.de). Während er noch fotografierte, begann die Demontage der Inneneinrichtung. Es verschwanden Betten, Stühle, Tische und Telefone; wandhohe Landkarten, rare Badewannen, Deckenlichter. Magdanz war in die klassische Rolle des Fotografen geraten, nämlich ein Aasgeier der Geschichte zu sein. Da machte er kehrt und entschied sich, den Erhalt der Dienststelle Marienthal als eine Art Museum des Kalten Krieges vorzuschlagen. Regelmäßig begleitet er Journalisten in den Bau, um ihnen zu zeigen, was vom ehemaligen Geheimnis übrig ist.

Zum Termin ist auch Regierungsdirektor Thomas Ernst Hofmann erschienen, der die Bundesvermögensabteilung der Oberfinanzdirektion Koblenz repräsentiert. Er, der vor drei Jahren noch nicht wusste, dass er das Bauwerk gab, hat es inzwischen versucht zu veräußern, so wie die Flughäfen von Bitburg und Hahn, die unter seiner Hand private Investoren gefunden haben.

Für die Dienststelle kursierten diverse Unternehmerideen; die düsterste Variante war die Einrichtung fest buchbarer Bunkerplätze für die Reichen, die groteske ein unterirdischer Vergnügungspark nach dem Modell des zweckentfremdeten Reaktors Kalkar. Die unerbittliche Forderung der Behörde, für den Fall des Scheiterns einer Unternehmung die gesamte Anlage (im Amtsjargon) „zurückzubauen“, konnte aber niemand entsprechen - wer hat schon im Zug einer Pleite sechzig Millionen Mark auf der hohen Kante?

Das Staunen der Beamten
Im Dezember des Jahres 2000 finden sich nur noch wenige Beamte, die die unent-behrlichen Maschinen des Hauses warten, Elektriker, Installateure, die mit dem Gebäude verwachsen sind. Es sind freundliche Leute, Männer ausschließlich, die sich gut gehalten haben in der zeitlosen Atmosphäre des Stollens. Die Jahre haben sich in Form von Alterslosigkeit in ihre Gesichter geschrieben, deren Augen und Augenbrauen noch jetzt das immense Staunen darüber anzusehen ist, dass sich die Vorzeichen ihres Arbeitslebens verkehrt haben; an die Stelle der hochoffiziellen Heimlichtuerei ist das kuriose Fragen der Presse getreten, das - spiegelbildliche - Staunen über ihr Werk, an der Schwelle zum reinen Entsetzen. Man spürt den Stolz der Handwerker, von denen einige betonen, schon beim Bau in den sechziger Jahren dabei gewesen zu sein, und gleichzeitig ist die Scheu geblieben, ein Widerstand, der überwunden werden muss, um den Fremden Auskunft zu geben. „Und die radioaktive Luft wurde dann durch diese Kohlefilter geleitet...“. Die vierzehntägigen Übungen des Kriegsfalls, mit Bundeswehrgenerälen und Marineköchen, haben ihre Spuren hinterlassen.

Auch wenn das Fotobuch von Magdanz eine gute Vorwarnung ist, bleibt die Begehung des Bunkers ein Schock. Vor allem ist es eine Befahrung, nämlich mit schmal konstruierten Elektrokarren und ihren Anhängern, auf denen die Gäste bei spürbarem Fahrwind durch lange, lange Flure gezogen werden. Die Füße soll man bei sich behalten, damit keiner in den eisernen Zähnen einer geöffneten Schleuse hängen bleibt. Der Fotograf folgt mit dem Fahrrad.

Wir bekommen die sogenannte Standarttour und diese braucht mehr als zwei Stunden. Man zeigt uns die Apparate, die natürlich nicht soviel anders aussehen als Dinge mit gleicher Funktion in der Industrie: Wasserspeicher und Ölheizungen, zum Beispiel. Aber das Bild, das sich langsam ergibt, ist nicht das einer stillgelegten Fabrik, sondern das einer wahrscheinlich noch gut funktionierenden autarken Festung, mit in Bruchteilen von Sekunden schließenden Luken, einem vollständig geplanten totalen Abschluss von der Außenwelt. Neben den Generatoren, die mit Öl Strom erzeugen können, steht die elektrische Steuerungszentrale, die mit einem Druck auf einen roten Knopf komplett abzuschalten ist. Dann folgt der nächste Raum mit Batterien: Sie liefern dann den Minimalstrom, um die Schaltung überhaupt wieder starten zu können.

Die Besucher sind schnell in Versuchung, nach Schwachstellen des Systems zu fragen, den Vorräten, der Wasserklärung; der Feuilletonist ist entgeistert, dass man an den Friseur, den OP und den Kinosaal gedacht hat, aber für die privilegierten Eingesperrten keine Bibliothek geschaffen hat. Der Bestand einer solchen Bibliothek hätte wohl Bände gesprochen.

Während man versucht, sich dieses Gebäude vorzustellen, muss man gestehen, dass es kaum möglich ist; denn kein Standpunkt, keine Perspektive offenbart die Dimension des Ganzen. Man lernt brav, dass es hier neunhundert Schlafkammern gibt und noch einmal so viele Büros; dass jeder Abschnitt, die komplette autarke Konstruktion, sich fünfmal wiederholt. Großes Staunen über das Einzelzimmer des Bundeskanzlers, eine schmale Kammer, in der man das karge Stahlbett hat stehen lassen, weil japanische Besucher sich so gern da hineinlegen. Ein Bundeskanzler, heißt es, sei hier unten nie gewesen, nicht einmal zum Spaß.
Am Ende bleibt der reine Horror: Leicht sich vorzustellen, hier unten als Geretteter zu sitzen bei für immer geschlossenen Türen. Ganz für sich hat der Fotograf beschlossen, dass ein augenloser stählender Kopf mit einer Düse als Mund - das Gasmaskenprüfgerät - das „einzige menschliche Antlitz“ sei, das im Inneren der Dienststelle Marienthal legitim seinen Platz hätte. Er verweist zurecht auf die Einmaligkeit eines Bauwerks, das keine Architekten brauchte, sondern von Ingenieuren erfunden wurde, um die Wirklichkeit zu besiegen. Es kann sein, dass man es nie vergessen darf, um sich über den Urgrund der Demokratie, in der man lebte, nicht nachträglich zu täuschen. Aber leichter wäre es gewiss.