FAZ
Samstag, 18. August 2001


Kathedrale des Kalten Krieges
Geschichtsentsorgung: Regierungsbunker im Ahrtal

Von Andreas Rossmann


Ein kühler Luftzug umfängt den Eintretenden. Eben noch herrschte eitel Sonnenschein, denn die Stichstraße, die bei der kleinen Ortschaft Marienthal - „Anlieger frei" - aus dem Ahrtal abbiegt, schien geradewegs in die Reben, hinauf auf den „Rotweinwanderweg", zu führen. Auf einmal aber umkurvt sie eine klotzige, mit Stacheldraht umzäunte Wachanlage aus grauem Beton, die, gekrönt von einer spiegelverglasten Sichtkanzel, die Scheinwerfer, Lautsprecher und eine Überwachungskamera armieren, tief im Westen des Landes Erinnerungen an die verblichene „Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik" weckt. Unscheinbar die Eingänge an den Seiten, dahinter eine Pförtnerloge, über der ein Plakat des Verfassungsschutzes klebt: „Vorsicht auch jenseits der Grenze. Den Verrat liebt man. Den Verräter nicht." Klirrende Sätze einer längst weggetauten Ideologie, die den Luftzug identifizieren helfen: Es ist der Atem des Kalten Krieges, der aus dem Berg weht.

„Rosengarten" lautete in Geheimdienstkreisen der nibelungenmythologische Code für den Ort. Auch der Tarnname „Dienststelle Marienthal" klingt ganz schön idyllisch. Dabei ist selbst die amtliche Bezeichnung „Ausweichsitz der Verfassungsorgane des Bundes im Krisen- und Verteidigungsfall zur Wahrung von deren Funktionstüchtigkeit" (AdVB) noch ein bürokratendeutscher Euphemismus angesichts der Funktion, die dem atombombensicher in den Weinberg versenkten Bunker zukam: Im Falle eines dritten Weltkriegs sollten der Bundeskanzler, der Bundespräsident, ranghohe Vertreter der Verfassungsorgane, VIPs und Führungskräfte, dreitausend Menschen insgesamt, hier dreißig Tage lang überleben können. Und danach hätten sie draußen weiterregieren müssen, wo es gar nichts mehr zum Regieren gab: Das Aufschieben des sicheren Todes um vier, fünf Wochen wäre ihr ganzes Privileg gewesen. Die Regierungsarche war, auch wenn es kaum jemand wahrhaben wollte, von Anfang an eine Absurdität.

Endspiel, übungshalber

Der Bunker setzt die Bombe voraus, beide bedingen einander. Was da nur fünfundzwanzig Kilometer südwestlich von Bonn in den Trotzenberg geheimnißt wurde, gehört zum Wahnsystem Wettrüsten und wurde mit der Wiederbewaffnung und dem Beitritt zur Nato 1955 zur Notwendigkeit erklärt. Die 1960 begonnene Wehrarchitektur beanspruchte zwölf Jahre, verschlang mindestens drei Milliarden Mark und beschäftigte bis zu zweitausend Arbeiter. Um sie in drei Schichten zu betreiben, wurden hundertachtzig Personen eingestellt -durchweg als Beamte, die, sicherheitsüberprüft und zum Schweigen vergattert, selbst ihren Ehefrauen nichts erzählen durften. Wahrscheinlich das teuerste „öffentliche" Gebäude der Bonner Republik, war der Bunker nie öffentlich zugänglich, sondern ihr bestgehütetes Geheimnis. Erst 1984 konnte der Kölner Journalist Michael Freute es ein Stück weit lüften: In mehrmonatigen Recherchen setzte er ein umfassendes Bild des Bauwerks zusammen, ohne es je von innen gesehen zu haben. Zutritt hatten dagegen alle zwei Jahre ein paar hundert Politiker, Abgeordnete, Beamte und Militärs, die zu den „Wintex"-Übungen der Nato einrückten und den Ernstfall probten. Staatssekretäre durften dabei ihre Chefs spielen: 1987, bei der letzten Vorstellung dieser Art, traten Waldemar Schrekkenberger, erster Mann im Kanzleramt, und Lothar Ruhe, sein Kollege auf der Hardthöhe, als „Bundeskanzler üb." und „Verteidigungsminister üb." an der Spitze eines Notparlaments auf. Staatstheater im Wortsinn, denn „üb." heißt „übungshalber", und ein Endspiel, das mit dem Bekkettschen zumindest den Schauplatz gemein hatte. Der Rest ist Schweigen, alles Weitere unterliegt der Geheimhaltung.

Der Boden des Trotzenbergs ist militärisch „belastet". Schon 1913 war damit begonnen worden, einen Eisenbahntunnel hindurchzuführen, doch da es militärstrategisch einen Transportweg zur Westfront eröffnet hätte, verbot der Versailler Vertrag den Weiterbau. Im Zweiten Weltkrieg zog die Rüstungsindustrie ein, um hier V-l-und V-2-Raketen montieren zu lassen. Nicht weit entfernt, am Ortsausgang von Dernau, unterhielt das KZ Buchenwald eine Außenstelle mit dem Tarnnamen „Rebstock", deren Häftlinge von der SS zur Waffenproduktion gepreßt wurden. Erst kurz vor Kriegsende, als die Zivilbevölkerung hier Schutz vor den Luftangriffen suchte, wendete sich die Funktion.

Die ungenutzten Röhren im weichen, locker gefügten Schiefergestein und die Nähe zu Bonn hatten den Ausschlag für den Standort gegeben. Was hier errichtet wurde, ist eine Ingenieurleistung ersten Ranges: 83 000 Quadratmeter Nutzfläche, neunzehn Kilometer unterirdische Gänge,
davon vier Kilometer in den Hauptstollen, die im Erdgeschoß 879 Büros und darüber 936 Schlafzellen enthalten, sowie allein 25 000 Türen, bis zu fünfundzwanzig Tonnen schwer, gibt es im Bunker, dazu Vorrats- und Konferenzräume, Werkstätten und Ersatzteillager, ein Fernsehstudio, einen Friseursalon, Fahrradgaragen, Filteranlagen und ein strategisches Zentrum, auf dessen Landkarten es bis zuletzt „Königsberg/Pr." und „unter fremder Besatzung" hieß. Auch eine Kapelle findet sich, nur keine Bibliothek. Untergliedert ist das unsichtbare, fensterlose Bauwerk in fünf autarke Sektionen, „West-West", „West-Mitte", „West-Ost", „Ost-West" und „Ost-Ost" mit Namen, von denen jede über eine Steuerzentrale, ein Sicherheitszentrum und ein eigenes Versorgungssystem mit Brunnen, Großküche und Notstromaggregat verfügt. Die Ausstattung ist spartanisch, zwischen Gefängnis und Jugendherberge: Ein schmales Feldbett, Schreibtisch und Telefon für den Kanzler, immerhin mit eigener Dusche, sonst Vierbettzimmer und Gemeinschaftswaschräume, allein dem Bundespräsidenten standen ein Bad und eine Suite mit knallroten Polstermöbeln zu.

„Die Anlage ist entbehrlich", erkannte Bundesinnenminister Manfred Kanther 1997, nachdem er noch 1995 mit Verweis auf den Investitionswert von fünf Milliarden Mark für die nächsten zehn Jahre 176,9 Millionen Mark für die „Herstellung der Funktionsfähigkeit und deren Aufrechterhaltung" angesetzt hatte. Mit der Auflösung des Warschauer Pakts und der deutschen Vereinigung war die Zeit über den Bunker hinweggegangen, und am 8. Dezember 1997 beschloß das Bundeskabinett, den „Ausweichsitz" aufzugeben. „Denkbar ist eine Nutzung für die Wissenschaft oder Technologieproduktion. Auch ein Großrechenzentrum käme in Frage", befand der technische Leiter von Marienthal, Werner Czewatzki, optimistisch. Die Bundesvermögensverwaltung wurde beauftragt, die unhandliche Immobilie zu vermarkten, und der Regierungsbunker zum Verkauf ausgeschrieben. 81 Anfragen und sechzehn Angebote gingen ein: Lager und Labor, Münzdepot und Champignonzucht, Techno-Disco und Eventhotel, der Vorschläge gab es viele, doch keiner konnte dem strengen Kriterienkatalog genügen. Letzter Interessent und am nächsten dran, das Bauwerk einer zivilen Nutzung zuzuführen, war der niederländische Investor Henny van der Most, der den „Schnellen Brüter" in Kalkar zum Erlebnispark „Kernwasser-Wunderland" umgerüstet hat. Doch auch seine Pläne vom „Bunker-Wunderland", das bis zu tausend Gäste beherbergen sollte, scheiterten an den Brandschutzauflagen und den Folgekosten.

Durch eine Zeitungsnotiz war 1998 der Aachener Fotograf Andreas Magdanz auf den Regierungsbunker aufmerksam geworden. Beim Bundesinnenministerium stellte er den Antrag, darin arbeiten zu dürfen, für drei Tage erhielt er eine Genehmigung, doch dann sind daraus sechs Wochen und schließlich sieben Monate geworden. Als erster durfte Magdanz, der bei Wilhelm Schürmann in Aachen studiert hat, den Regierungsbunker fotografieren: Angeregt von Paul Virilios „Bunker-Archäologie", hat er mit einer Großformatkamera mehr als tausend Aufnahmen gemacht und hundert davon - zwanzig in Farbe, achtzig schwarzweiß - in den Band „Dienststelle Marienthal - Eine Gebäudemonographie" aufgenommen, den er im Selbstverlag herausgibt. Der Foliant trägt einen orangefarbenen Umschlag, auf dem eine alte B 52 fliegt. Der Anachronismus reflektiert eine ästhetische Aporie, denn der Regierungsbunker, so der Fotograf, läßt sich nicht auf ein repräsentatives Bild bringen.

Der Rückbau beginnt

In endlos lange Gänge, in Büro-, Schlaf -und Konferenzräume, in Lüftungs- und Aufzugsschächte, Tunnelgewölbe und Notausgänge, Schleusen und Rohrsysteme, Apparaturen und Schaltkästen, Wegweiser und Warnschilder, bis zum Gasmaskenprüfgerät und zum Aschenbecher zerlegt Magdanz den Bunker, aufmerksam für Details und sich jede sensationelle Note verkneifend, setzt er ihn seinem sachlichen Blick aus: Indem er die Zeit festhält, holt er zugleich hervor, was in ihr aufgehoben ist. Wie er die Räume erfaßt, schließt er auch deren versiegelte Geschichte auf, unwirkliche Wirklichkeiten und unvergangene Vergangenheiten: der Regierungsbunker als kulturhistorisches Monument.

Es ist ein sehr deutscher Ort, abgründig und aufgeräumt, angstbesetzt und perfekt, labyrinthisch und durchorganisiert, der Auskunft gibt über deutsche Sekundärtugenden und deutsche Ingenieurkunst, deutsche Mentalitäten und deutsche Kontinuitäten: Erster Sicherheitschef in Marienthal soll der SS-Massenmörder Erich Priebke gewesen sein. Als Bauwerk ist der Regierungsbunker für die Bonner Republik ähnlich aussagekräftig wie der „Lange Eugen" in Bonn, das ICC in Berlin oder das Olympiastadion in München, das im selben Jahr fertiggestellt wurde. Sich nicht mit ihm identifizieren zu wollen ist verständlich und eine Sache; ihn heute, da seine Schließung ausgemacht ist, restlos zurückzubauen, eine andere: Statt sich der Geschichte zu stellen, wird sie für unerwünscht erklärt und entsorgt. Ohne Funktion ist der Bunker deshalb nicht ohne Bedeutung. Im Grunde hat er den ihm zugedachten Zweck nie erfüllen können und darf dennoch - oder gerade deswegen? - heute unter anderen, günstigen Bedingungen nicht „zweckfrei" fortbestehen, indem er - zumindest teilweise - als Museum oder Denkmal des Kalten Krieges erhalten bleibt: Von einem so abstrakten Vorgang wie dem Wettrüsten mag er künftigen Generationen zwar keine Anschauung vermitteln, wohl aber davon, zu welch monströsen Auswüchsen es führte.

Der Geheimhaltungspolitik, der der Bunker unterlag, und dem Tabu des Ernstfalls, mit dem er belegt war, entspricht die breite, einvernehmliche Bereitschaft, ihn zu verdrängen: Politiker wie Rupert Scholz und Helmut Schmidt bestreiten, obwohl Fotos und Zeugen das Gegenteil belegen, den Bunker je besucht zu haben, der Denkmalschutz erklärt sich, als würde nicht umgekehrt ein besseres Argument daraus, mangels Vergleichsobjekten für nicht zuständig, das Haus der Geschichte in Bonn begnügt sich mit ein paar Devotionalien fürs Depot, der damalige Kulturminister Michael Naumann, seines Zeichens Historiker, lehnte eine Förderung des Projektes von Magdanz als „nicht von bundespolitischer Bedeutung" ab, und der rührigen Oberfinanzdirektion in Koblenz soll nahegelegt worden sein, daß, wenn sie keinen Käufer findet, das die beste aller Lösungen sei. In den nächsten Tagen soll mit dem Rückbau begonnen werden. Die Inneneinrichtung ist schon ausgeräumt, Matratzen wurden - Ironie der Geschichte - nach Kuba, Möbel nach Ex-Jugoslawien geschickt. Aber ein Titanenwerk, maßstabs-sprengend wie einst der Bau, bleibt zu vollbringen: 580 Kilometer Kabel müssen entfernt, achthundert Tonnen Abbruchmaterial herausgetragen, 480 000 Quadratmeter Wandfarbe abgeklopft werden. Auf sechzig Millionen Mark werden die Kosten veranschlagt, vier Jahre sollen die Arbeiten dauern, für die, um das Ahrtal zu schonen, eigens eine Baustraße zur Autobahn A 61 gelegt wurde. Am Ende wird von dem Regierungsbunker, dieser einzigartigen Kathedrale des Kalten Krieges in Deutschland, nichts übrigbleiben - nichts außer den Fotos von Andreas Magdanz.